Wenn man über die Schwelle des zweistöckigen Containerbaus im Hofweg 15 in Hockenheim tritt und die schwere Eisentür ins Schloss fällt, dann wird alles Licht ausgesperrt und man fühlt sich wie in einer anderen Welt. Die Luft steht und mit jedem Atemzug inhaliert man Geschichten vom Scheitern, von Drogensucht und von Hoffnungslosigkeit. Schon nach wenigen Schritten durch den schmalen, von rostzerfressenen Containerwänden gerahmten Gang hat man fast vergessen, dass da draußen noch die Sonne scheint und die Vögel zwitschern. Zwischen den vielen gleichen Türen sticht eine, fast am Ende des Ganges, hervor. Auf dem Briefkasten vor dem Büro des Streetworkers Simon Massoth liegen Traubenzucker, Äpfel und Müsliriegel unter einem handgeschriebenen Zettel mit der Aufschrift "Bedienen Sie sich Bitte!" Eine freundliche Geste, ein roter und ein grüner Farbklecks in der tristen Umgebung wecken die Neugierde auf das, was hier zu finden ist. Wenn man die Tür dann öffnet, blickt man in eine Oase inmitten der Trostlosigkeit. Ein knallrotes Sofa, eine saftig grüne Pflanze, ein gemütlicher Teppich. An der Wand hängt eine große Weltkarte und erinnert daran, dass es da draußen doch noch so viel mehr gibt.
Bei einem heißen Tee und einem guten Gespräch mit dem Streetworker entsteht fast schon Normalität und man kann für einen Moment vergessen, wo man sich befindet. Für Massoth ist es wichtig, mit seinem Büro als Ansprechpartner für die Wohnungslosen genau hier, mitten in der Notunterkunft zu sein. "Die Hürde wäre für die Menschen zu groß, woanders hinzugehen", sagt er. Besonders deshalb, weil es vielen sowieso schwer fällt, Hilfe anzunehmen, macht er es den Menschen so leichter, sich zu überwinden. Die Bewohner/innen sind grundsätzlich skeptisch, manche schämen sich. Für Massoth heißt es daher vor allem am Anfang "viel da sein und abwarten". Er möchte sich und seine Hilfe nicht aufdrängen, sondern lieber Taten sprechen lassen. Wenn einem geholfen wird, dann spricht sich das schnell herum und andere trauen sich auch, mit ihrem Anliegen vorbeizukommen - so Massoths Plan. Am Anfang hat Massoth sich an seinem neuen Arbeitsplatz beengt gefühlt. Deshalb hat er den kleinen Raum so schön wie möglich eingerichtet, Pflanzen aufgestellt und auf einem Tisch verschiedene Snacks bereitgelegt. Wenn er sich hier wohl fühlt, dann tun das hoffentlich auch die potentiellen Besucher/innen.
Auch bei seinem Lösungsansatz für die Obdachlosen merkt man, dass Massoth zunächst einmal von sich selbst ausgeht, um herauszufinden, wie er am besten helfen kann. Er ist sich sicher: "An so einem Ort kann man nicht gesund werden." Deshalb ist es sein Ziel, die Leute aus den Containern herauszuholen. Durch den Mangel an Wohnraum bleibt ein Großteil der Menschen nämlich oftmals über mehrere Jahre in der Notunterkunft. Eine wichtige Aufgabe ist es deshalb, Wohnungen zu finden. Dafür tritt Massoth in Kontakt mit Wohnungsbesitzer/innen und Makler/innen. Auf diesem Gebiet kann er mit den Integrationsmanagern des DRK zusammenarbeiten, da auch für sie die Wohnungssuche ein wichtiges Thema ist. Eigentümern möchte er die Entscheidung erleichtern, indem er Aufklärungsarbeit leistet. Durch seine persönliche Betreuung kann er den guten Zustand der Wohnung immer sicherstellen und steht auch als Ansprechpartner für die Vermieter zur Verfügung. Massoth hält es für sehr wichtig, sich mit den Ängsten und Gedanken der potentiellen Vermieter auseinanderzusetzen und bei ihnen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie etwas Gutes für die Gesellschaft tun können. Dabei geht er mit gutem Beispiel voran: er hat ein Zimmer in seiner Wohnung an einen 17-jährigen Flüchtling untervermietet und zeigt damit selbst das Engagement, welches er sich von anderen erhofft.
Massoths Meinung nach ist der Weg in die Obdachlosigkeit oft "eine Kausalkette aus Jobverlust, Krankheit und Scheidung." Ein Ereignis steht am Anfang und die anderen folgen dann daraus. Ein neuer Job erhöht nicht nur die Chancen auf eine Wohnung, sondern stellt auch für die Person eine Aufgabe dar, die Beschäftigung und Ablenkung bietet. So kann der Weg zurück in ein geordnetes Leben gefunden werden, was auch bei psychischen Problemen hilfreich ist. Massoth hilft deshalb bei der Suche nach Stellenangeboten, tritt mit potentiellen Arbeitgebern in Kontakt und reicht auch die gemeinsam erarbeiteten Bewerbungsunterlagen weiter. Das alles geschieht natürlich nur in Absprache mit der betreffenden Person. Es ist Massoth wichtig, dass jede/r aktiv selbst entscheidet, wie weit er/sie ihn in sein/ihr Leben eingreifen lassen möchte.
Wenn ein/e Bewohner/in zu ihm in die Sprechstunde kommt, führt Massoth ein ganz normales Gespräch auf Augenhöhe mit ihm/ihr: "Ich frage weniger nach den Problemen der Leute, sondern eher, was mich persönlich an ihnen interessiert. Meistens erzählen die Leute dann von ganz alleine, was sie bedrückt. Vielen tue es auch gut, einfach mal jemanden zum plaudern zu haben, da in der Unterkunft meist keine guten sozialen Kontakte entstehen. Auch für ihn selbst ist es immer wieder schön, die Menschen so persönlich kennenzulernen. "Die Leute sind dadurch nicht mehr so eine diffuse, aggressive, beängstigende Masse", sondern eben einfach Mitmenschen mit verschiedenen Erfahrungen, Hintergründen und Problemen. Wenn der Erstkontakt einmal stattgefunden hat, kommen die Leute immer wieder oder bleiben telefonisch mit ihm in Kontakt. Mit dem spanischen Bewohner Herr E. hat sich Massoth beispielsweise zum gemeinsamen Paella-Essen verabredet, nachdem dieser ihm in einem Gespräch von seiner Leidenschaft fürs Kochen erzählte. Diese kleinen Dinge schaffen Vertrauen und ebnen den Weg für eine lange, erfolgreiche Zusammenarbeit.
Obwohl beim Öffnen der Containertür die Sonne wieder strahlt und man, nachdem die Augen sich an das helle Licht gewöhnt haben, die Containerwelt überraschend schnell hinter sich lässt, endet Massoths Arbeit nicht an der Grenze des Grundstückes. Auch ehemalige Bewohner des Hofwegs, die inzwischen den Schritt in eine eigene Wohnung oder Wohngemeinschaft geschafft haben, werden weiterhin von ihm betreut. So besucht er zum Beispiel Frau B. in ihrem neuen Zuhause. Wenn sie sich mit ihm unterhält und ihm stolz ihr Zimmer zeigt dann fühlt man das Vertrauen, das zwischen den beiden besteht. "Simon macht nicht nur seine Arbeit, sondern ist mit Herz dabei und möchte den Leuten helfen", sagt sie voller Überzeugung. Auch ihren Freunden, die noch im Hofweg wohnen, möchte sie den Streetworker empfehlen. Sie selbst möchte nie mehr zurück in den Containerbau und bestätigt Massoth auch in einem zentralen Punkt: "Das Umfeld in dem man lebt ist ganz wichtig." Frau B. schätzt es, dass er es für möglich hält, dass sie einen Ausweg aus dem Hofweg finden, sogar wenn sie daran selbst schon nicht mehr geglaubt hatten.
Es ist wahrscheinlich diese "professionelle Naivität", gepaart mit einer großen Portion Idealismus, durch die Massoth es schafft, inmitten von all der Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit den Mut nicht zu verlieren. Er weiß, dass man manchmal etwas kleinere Schritte gehen muss, dabei aber das große Ziel nie aus den Augen verlieren darf: Jede einzelne Person soll mit seiner Unterstützung den Absprung aus dem Hofweg schaffen. Das ist der Anspruch, aus dem Massoth die Motivation für seine Arbeit zieht. Dabei möchte er nicht als Retter fungieren, sondern als stressfreier Ansprechpartner, der auf der Seite der Leute steht und ihnen Türen öffnet, wo sie es selbst nicht können.